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Beitrag von Verena Lammer

Geschrieben im April 2012 anlässlich der von "Don Xello" (Christian Xell) verfassten Beschreibungen von Milongas in Wien auf seinem Tangoblog. Der Beitrag entbehrt nicht einer sehr kultivierten und feinen Kritik. Inzwischen wurden Veränderungen auf Christians Xell Tangoblog bei den Beschreibungen der Milongas vorgenommen bzw. Beiträge sogar entfernt.



Verena Lammer:  Kulturhistorische Überlegungen zum zeitgenössischen Tango in Wien

 

Ich möchte mich an dieser Stelle von Herzen bedanken – für den unerwartet gelungenen, wenngleich wenig überraschenden Versuch, zu einer Orientierung in der Wiener „Milonga-Szene“ beizutragen, welcher ein Segment des Tangos in Österreich besonders treffend (selbst) darstellt.
 

Die erklärte Absicht „Don Xellos“, Humor und eventuell Sarkasmus – und zwar ohne Besserwisserei – in seine Texte einfließen zu lassen, hat mich jedoch ein wenig verwirrt: Ist Sarkasmus, „beißender, verletzender Spott … Abstraktum von gr. sarkázein ‚verhöhnen’, eigentlich ‚zerfleischen’, zu gr. sárx (sarkós) f. ‚Fleisch’.“ (Kluge, etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. Auflage, Berlin; New York 2002, S. 785), ohne jemanden, der es „besser weiß“ und der „besser beißt“ denn möglich? Soll ich etwa die Beschreibung seiner eigenen Veranstaltung auch als von eventuell beißendem und verletzendem Spott geprägt interpretieren?

 

Eine Frage der Logik, der Sprache oder vielleicht doch eines – anderen – Humors? Wie etwa auch hier? Wenn an “Don Xello” statt “Bektashi” und an “Tango Austria” statt “Turkey” gedacht wird? „What the Jew and the Scotsmen are to the humour of the Anglo-Saxon world “Don Xello” in a somewhat lesser way is to the humour of “Tango Austria”; and, as in the case of the Scotsman, no one delights more in the telling of “Don Xello” stories than “Don Xello” himself.“ (John Kingsley Birge, The Bektashi Order of Dervishes. London 1937: 92)       

 

Entzückt hat mich allerdings durchaus die Textpassage zum Aspekt des Tangos als Kunst- und Lebensstil. Persönlich folge ich selbst jedoch, was den Begriff „Kultur“, also auch „Kunst“ angeht, im Wesentlichen der semiotischen Auffassung in der Tradition von Max Weber und Clifford Geertz, wonach „der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft erscheinen“. (Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M.1983: 9) So geht es auch mir im Tango um das Deuten von Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft erscheinen.

 

Ist in dieser Tradition Kultur, also auch der Tango – ein von Menschen selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe – so wird die Qualität ihrer/seiner Untersuchung gemessen an der Qualität der Interpretation. „Eine gute Interpretation von was auch immer – einem Gedicht, einer Person, einer Geschichte, einem Ritual, einer Institution, einer Gesellschaft – versetzt uns mitten hinein in das, was interpretiert wird. Wenn sie das nicht tut, sondern statt dessen etwas anderes in uns bewirkt – Bewunderung für ihre Eleganz, die Klugheit des Interpretierenden oder die Schönheit der Euklidischen Ordnung –, dann mag sie zwar durchaus ihren eigenen Reiz haben, liefert aber etwas ganz anderes, als was sie liefern sollte: nämlich herauszufinden, worum es bei dem ganzen Hin und Her mit den Schafen geht.” (Geertz 1983: 26) Geertz bezieht sich hier exemplarisch auf den Bericht über einen fingierten Schafdiebstahl in Marokko, ich hingegen möchte gerne verstehen, worum es bei dem ganzen Hin und Her der Paare auf den Tanzflächen geht. Manche Interpretationen des Geschehens auf Milongas in Wien versetzen mich aber eben nicht „mitten hinein“.

 

Als Kriterium für eine gelungene Interpretation, also auch in der Musik, auch im Tango, kann gelten, ob sie einen Zugang zur Gedankenwelt der „untersuchten Subjekte erschließt, ob sie uns „hineinversetzt in das, was interpretiert wird, sodass es möglich wird, mit jenen, die interpretiert werden, ein Gespräch – in weitestem Sinne – zu führen.

 

Dialogfähigkeit im Tango wäre schön. Manchmal habe ich sie schon erlebt.

 

Weiters halte ich den Hinweis „Don Xellos“, sich auch mit der Entstehungsgeschichte des Tango Argentino zu beschäftigen, für überaus wertvoll. Der Blick auf die sozialen Aspekte, die bei allen kulturellen Phänomenen beschrieben werden, die unter den Bedingungen von Migration entstehen, ist auch für eine Orientierung in der Wiener Tango-Welt hilfreich. Geht es doch um das Finden und Definieren von Identität(en) und um so universelle Fragen der Menschheit, wie: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Letzteres kann also im Tango durchaus wörtlich verstanden werden.

 

Dass Gruppen im „Exil“ Traditionen aus ihren Herkunftsländern pflegen, welche dort – gegenwärtig – oft keine Gültigkeit mehr besitzen, ist bekannt. Ebenso, dass es unter Bedingungen wirtschaftlicher Unsicherheit und sozialer Isolation – schlicht Einsamkeit genannt – zu „Clanbildungen“, häufig in Zusammenhang mit „messianischen“ Erscheinungen kommt, welche „Glaubenskriege“ um das einzig „Reine, Wahre und Schöne“ führen. Diese Prozesse sind beispielsweise nicht nur aus der Frühgeschichte des Islam überliefert, sondern finden auch in der Tangoszene in Österreich statt. Im Folgenden sei einfach „Islam“ durch „Tango“ ersetzt: „Die ganz oder teilweise autonomen Gruppen auf dem Land brauchten religiöse Mittler und Schlichter (was aus ganz anderen Gründen auch für die städtischen Armen galt.) Völlig unabhängig von den gesetzeskundigen Theologen, die den orthodoxen Tango definierten und am Leben erhielten, gab es also einen Haufen von halborganisierten Sufis, religiösen Orden, die einem „Marabut”- oder „Derwisch”-Kult anhingen, und regionalen lebenden Heiligen. Diese stellten eine informelle, häufig ekstatische und in ihrer Rechtgläubigkeit fragwürdige inoffizielle Geistlichkeit dar. Durch sie war der volkstümliche Tango charakterisiert, dem die Gläubigen in der Mehrzahl anhingen. Viele Jahrhunderte lang existierten die beiden Flügel des Tango nebeneinander, manchmal in einem gespannten Verhältnis, manchmal friedlich.” (Ernest Gellner, Pflug, Schwert und Buch. Grundlinien der Menschheitsgeschichte. München 1993: 253)

 

Gruppenstabilisierend wirken dabei nicht nur gemeinsame Feindbilder, sondern auch abgrenzende Symbole, Rituale und Tabus, welche sich oft nur deswegen entwickeln, weil sie in völligem Widerspruch zu den Gewohnheiten anderer stehen. Besonders wirksam sind dabei solche symbolischen Handlungen (z.B. die Befolgung von Bekleidungsvorschriften, die Reglementierung von sozialen Kontakten, …), die „den anderen“  vor allem lächerlich erscheinen. „Das Schweinefleischverbot und das Gebot der Freitagsabstinenz sind gerade deshalb so ideale Symbole der Gruppenverbundenheit, weil die Angehörigen anderer Kulturen keinerlei Sinn in ihnen sehen.” (Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Frankfurt/M. 1981: 62)

 

Die Frage der „Freitagsmilonga“ in Wien könnte also auch unter diesem Aspekt beleuchtet werden. In diesem Sinne sollten bestimmte Ausdrucksformen des Tangos in Österreich vielleicht nicht so ernst genommen, sondern als völlig normale kulturhistorische Erscheinungen unter vielen betrachtet werden.

 

Die Gedanken – und wie ich von ganzem Herzen hoffe, auch der Tango in Wien – sind frei – wenn auch nicht immer schön.

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