SaTho Tango
Achse
Ganz allgemein würde ich meinen, dass
Gegensätze und
Unterschiede, unsere Wahrnehmung ermöglichen und ihr Sinn
verleihen. Dunkel ist
nicht dunkel ohne die Erfahrung von Licht und umgekehrt braucht es die
Erfahrung von Dunkelheit um Licht zu erkennen. Ohne die Erfahrung von
körperlicher Spannung gibt es keine Entspannung etc. Wir nehmen
sowohl die
dingliche als auch die soziale Welt in Polaritäten wahr. Zwischen
den extremen
Polen können wir eine Vielfalt an Abstufungen wahrnehmen und
erleben, mit deren
Hilfe wir uns mit der Welt in Beziehung setzen, und die unsere Welt
bereichern.
Um auch die
Beziehungserfahrung im Tango, womit nichts
anders als das Erleben des gemeinsamen Tanzes gemeint ist,
möglichst reich,
differenziert und lebendig zu machen, sind die gegensätzlichen
Erfahrungen der
Selbst-ständigkeit und Ab-hängigkeit im Tanz bedeutsam. Mit
Selbst-ständigkeit
ist in diesem Zusammenhang gemeint, während des Tanzen in der
eigenen Achse
stehen und gehen zu können. Was die Abhängig-keit in diesem
Zusammenhang
betrifft, so meint sie, das im Tanz vorkommende, vorübergehende
Aufgeben der
eigenen Achse. Sie ist eine bestimmte Form der aktiven Hingabe an den
Tanzpartner. Diese Hingabe wird dadurch erreicht, dass sich das
tanzende Paar
auf eine gegenseitige Ab-hängigkeit einlässt. In dieser
Abhängigkeit lehnt das
Paar aneinander oder hängt im wortwörtlichen Sinne von
einander ab. Besonders
deutlich werden diese Möglichkeiten bei den verschiedenen
Variationen von
Volcadas und Colcadas. Erst die Kombination des Tanzens in der eigenen
Achse
mit den verschiedenen Graden des Aufgebens der eigenen Achse oder
anders gesagt
der aktiven Hingabe eines Teils des Körpergewichts an den
Tanzpartner, machen
in meiner Sicht den Tanz wirklich interessant. Denn diese Nuancen
bereichern
den Tanz - sowohl im Erleben des Paares selbst als auch für das
Auge des
Betrachters - in einem ungleich größeren Ausmaß, als
wenn das Paar immer mit
„geteilter Achse“ oder jeder in seiner eigenen Achse tanzen
würde. Im Tanz ist
das Erlebnis des Weges oder des Übergangs von der
„Selbst-ständigkeit“ (Tanzen
in der eigenen Achse) zu verschiedenen Graden von Abhängigkeit
(Tanzen mit
gemeinsamer Achse, also Gewichtsabgabe aneinander) ein besonderes
Ereignis.
Dieses Ereignis bringt viel Freude und Genuß. Es wird
natürlich sehr
individuell erlebt, wohl als eine neue Qualität des
Zusammenkommens und des
Kontakts im gemeinsamen Tanz, oft als eine Intensivierung der
Beziehung. Hier
wird besonders deutlich, wie die Abhängigkeit die als Begriff ja
oft in unseren
alltäglichen Leben einen negativen passiven Beigeschmack hat, im
Tango als
genussreiche aktive Hingabe aufgefasst bzw. erlebt wird. Bei solchen
intensiven
Momenten wird von den Tanzpartnern gegenseitig ein Teil des Gewichts
des Anderen
übernommen, was an der eigenen Körpergrenze (bei
geschlossener Umarmung
besonders im Brustbereich) als wohltuende gesteigerte Nähe erlebt
wird. Das
Erleben gemeinsam eine Einheit zu bilden, ist hier oft sehr
ausgeprägt. Ich
möchte darauf hinweisen, dass dieses Gefühl von
„Ver-einigung“ gemeinsam mit dem deutlicheren Spüren
der eigenen Grenzen
(Körpergrenzen) einher geht. Die Wärme und das Gewicht des
Tanzpartners mit
zunehmender Intensität an der eigenen Körpergrenze
gespürt, lässt die Erfahrung
von Einheit mit dem Anderen aufkommen. Die deutlichere Erfahrung der
eigenen
Grenze (Begrenzung) ermöglicht also den intensiven Kontakt.
Kontakt findet eben
an der Grenze statt und nur durch unsere Getrenntheit voneinander
können wir in
guten Kontakt treten; und nicht durch die Auflösung von Grenzen.
Auch das Aufgeben der Ab-hängigkeit, das Wieder-in-Beziehung-sein
in der „selbst-ständigen“ Form - ganz auf „eigenen Beinen stehend“ und doch so
verbunden - bringt die Möglichkeit von großem Genuss mit sich. Dieser Wechsel
verändert ebenfalls die Qualität der weiter andauernden Gemeinsamkeit sehr deutlich
und ermöglicht auch zukünftige weitere Steigerungen der Annäherung und
Intensität während des gemeinsamen Tanzes.
Meiner Erfahrung nach sind mannigfache Einseitigkeiten, was
die Verwendung der Achse betrifft anzutreffen. In ihren Extremen dort, wo der/die
TanzpartnerIn bei enger Umarmung dauerhaft versucht sein/ihr Gewicht an den/die
PartnerIn abzugeben; oder bei offener Umarmung verbissen versucht seine/ihre „Eigenständigkeit“
durch nicht Zulassen auch nur einer kurzzeitigen Abhängigkeit zu erhalten.
Diese Phänome in ihren Variationen bei beiden
Geschlechtern können natürlich eine Auswirkung des grundlegenden Abhängigkeit-Autonomie-Konfliktes
darstellen, bei dem die aktive Hingabe mit einer Abhängigkeit im Sinne von Verlust
der Autonomie verwechselt wird, oder es kann eine Flucht in die Abhängigkeit wegen des
Gefühls einer nicht bewältigbaren Autonomie vorliegen.
Sie können aber vielleicht auch den einen oder anderen Trend
der Zeit widerspiegeln.
Im Falle der Neigung das Gewicht an den Partner abzugeben ist es vielleicht ein weiblicher Protest gegen den gesellschaftlichen
Zwang zur Selbständigkeit oder sogar die unausgesprochene Forderung, du musst mich tragen, halten, leiten; beim
Mann vielleicht eine neue Chance wieder die Führung zu erlangen, wo er doch in
der traditionellen Männerrolle so verunsichert worden ist. Oder sind sie ganz
allgemein der unvollkommene Ausdruck eines Verlangens, trotz aller Ängste sich
zu besinnen und sich und den anderen zu spüren?
Eine dauerhafte Verweigerung auch nur einen Teil des
Körpergewichtes abzugeben, habe ich jedenfalls seltener erlebt, wenn sie jedoch
auftrat, war sie oft sehr hartnäckig und mit viel Angst besetzt.
Auf Milongas ist es mir oft passiert, dass die Dame sich
ununterbrochen an mich lehnen möchte um mir so einen Teil ihres Gewichtes zu
übertragen. Zwar konnte ich diese Situation verändern und die Dame dazu bewegen
damit aufzuhören, doch die Folge war eine dauernde Verunsicherung während des
Tanzes ihrerseits. Es bestand da eine wirkliche Schwierigkeit beim Tanz auf
eigenen Beinen zu stehen und die geführten Figuren in eigener Achse zu
vollbringen. Ein dauernder Kampf mit dem Gleichgewicht also. Diese Erfahrungen
fand ich immer wieder sehr bedauerlich und fand es schade, dass die
Tanzmöglichkeiten so eingeschränkt waren.
Auf ein differenziertes Spiel mit der Achse lege ich in
einem Unterricht für fortgeschrittene Tangotänzer viel wert. Um das Erreichen
zu können hat sich im Unterricht für Anfänger sehr bewährt, zuerst eine sichere
eigene Achse während des Tanzes zu entwickeln. Bei offener Tanzhaltung ist die
Versuchung geringer sich aneinander zu lehnen und sich eine einseitige passive Abhängigkeit
beim Tangotanzen ein zu lernen. So ist das erste Ziel meines Unterrichtes, den Schülern das
Tanzen in offener Umarmung und in
eigener Achse vertraut zu machen.
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